Gedenkstätte Ahlem: Erinnerung durch Bäume lebendig halten

Victor Hübotter vor der Kastanie.
Foto: Region Hannover, Frauke Bittner

Auf dem Gelände der einstigen Israelitischen Gartenbauschule, heute die Gedenkstätte Ahlem, steht ein besonderes Naturdenkmal: eine mehr als 200 Jahre alte Kastanie, die an die wechselvolle Geschichte des Ortes erinnert. Sie hat nicht nur die Kaiserzeit und das Leben der Kinder und Lehrkräfte in der jüdischen Schule, sondern auch den Missbrauch durch die Nationalsozialisten überdauert, die das Schulgelände zu einem Ort der Verfolgung und Vernichtung machten. Von einer Brandnarbe gezeichnet, durch Metallstangen und Gurte gestützt, wächst der Baum als lebendiges Zeitzeugnis neben dem Platz, an dem einst die Laubhütte stand, in der Schulfeste gefeiert, aber auch Menschen getötet und Beweise für die Gräueltaten der Nazis durch ein Feuer vernichtet wurden.

Einer, der die Geschichte dieser Kastanie zum roten Faden in pädagogischen Workshops mit Schulklassen macht, ist Victor Hübotter. Schon als Schüler begleitete er 2014 die Neueröffnung der Gedenkstätte Ahlem und unterstütze das Team der Gedenkstätte. Nach seinem Abitur an der Tellkampfschule studierte Hübotter an der Humboldt-Universität in Berlin Geschichts- und Sozialwissenschaften und blieb der Gedenkstättenarbeit während seiner Tätigkeit im Berliner Anne Frank Zentrum verbunden. Für sein Masterstudium im interdisziplinären Fach „Atlantic Studies in History, Culture and Society“ zog es ihn zurück nach Hannover – und damit auch zurück an die Gedenkstätte Ahlem, wo der 26-Jährige heute als Workshop-Leiter das Team in der pädagogischen Arbeit mit Schulklassen unterstützt. „In diesem Kontext entstand auch die Idee der ‚Kastanien-Workshops‘“, berichtet Victor Hübotter.

Schüler des 9. oder 10. Jahrgangs, die für einen Workshop in die Gedenkstätte kommen, vermittelt Hübotter die Geschichte des Ortes zunächst anhand von Beispielen, die ganz verschiedene Bäume zum zentralen Erinnerungs- und Gedenkmotiv machen. Sei es die Allee der Gerechten unter den Völkern in Israel, das Bild einer Eiche in Zwickau, die in Gedenken an die NSU-Morde gepflanzt und dann von unbekannten Tätern abgesägt worden war oder ein Wald in Erinnerung an die Opfer der Militärdiktatur in Chile.

Beim Gang durch die Ausstellungsräume und über das Gelände der Gedenkstätte Ahlem, durch den ehemaligen Schulgarten und vorbei an der „Wand der Namen“, kommt die Gruppe schließlich zur Kastanie und kann den Zusammenhang zwischen dem von Nazis gelegten Brand in der Laubhütte und dem Brandmal am Stamm des Baumes mit eigenen Augen nachvollziehen. „Das löst bei den meisten einen Moment der Stille und des Staunens aus – dass diese Geschehnisse noch gar nicht so lange her sind und dass es lebendige Zeugnisse gibt für diese ‚Unzeit‘“, so Hübotter. Er wünscht sich, dass sich die Idee der Kastanie als Erinnerungsmotiv fortpflanzt und auch an anderen Orten der Welt lebendig bleibt. „Am Ende jedes Workshops erhalten die Schüler*innen einen kleinen Setzling des Baums, um die Erinnerung der Kastanie von Ahlem in die Welt zu tragen. Sie müssen den Baum nicht zwangsweise in Erinnerung an die damaligen Naziverbrechen pflanzen – er kann auch an Opfer von rechter Gewalt heute erinnern.“ In einer Karte verzeichnet Hübotter, wo überall Ableger der Ahlemer Kastanie wachsen. „So pflanzt sich das Gedenken fort.“

Über Kontakte zu indigenen Aufforstungsprojekten in Guatemala überquerte die Geschichte der Ahlemer Kastanie während Hübotters Studium im vergangenen Jahr den Ozean: In der Gemeinde Pachaj steht ein altes Lehmhaus, „casa de los tatuajes“ genannt – „das tätowierte Haus“. Mit seinen Wandbildern erinnert es an Chico Mendes – einen brasilianischen Umweltschützer, der 1988 für seinen Widerstand ermordet wurde. In einem Wiederaufforstungsprojekt pflanzen Arbeiter*innen, Schulklassen und Freiwillige hier seit 25 Jahren geschützte Baumarten, um die Zerstörung der Bergwälder und den Raub von indigenem Gemeindeland zu verhindern.

„Dieser friedliche, intelligente Widerstand ist in diesem Land kein einfaches Vorhaben“, berichtet Hübotter, „Militärputsche, Bürgerkrieg, Genozide an der indigenen Bevölkerung und anhaltende Gewalt, Korruption, Rassismus und Armut halten Guatemala im Würgegriff – für viele ist die letzte Möglichkeit die Auswanderung in die USA. Seit Trump bedeutet das noch mehr Angst, etwa vor drohenden Deportationen.“ Gemeinsam mit dem Projektteam malte Hübotter das Bild der Ahlemer Kastanie an das „tätowierte Haus“. Dort schafft das Bild jetzt eine Verbindung zwischen Ahlem und Pachaj – an beiden Orten erinnern Bäume an den Widerstand gegen Unrechtsregime und Verfolgung. 2025 wurde das „Kastanien-Projekt“ mit dem Korman-Finkelstein-Preis 2024 im Rahmen des Volkswagen Respekt- und Toleranzpreises ausgezeichnet.

Denk.Mal.Garten.Fest

Erinnerung lebendig halten, ein friedliches und tolerantes Miteinander pflegen und feiern: Unter diesem Motto steht auch das diesjährige Denk.Mal.Garten.Fest: Vom 27. bis 29. Juni lädt der Gedenkort an der Heisterbergallee zu einem dreitägigen Festival mit Musik, Kunst und Kultur, Führungen und Programm für Familien ein. Der Eintritt ist frei. Alle Infos zum Denk.Mal.Garten.Fest und das komplette Programm sind abrufbar unter www.gedenkstaette-ahlem.de.

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